Donnerstag, 22. Juni 2023

Betty Davis - s/t

 

Betty Davis – s/t

Just Sunshine Records 1973

Einmal muss ich bei meiner Auswahl der „100 unentdeckten Meisterwerke der Rockmusik“ noch einen Ausflug in den Funk machen. Einfach, weil diese Lady so unfassbar war. Unfassbar funky, unfassbar gut, unfassbar anders. „They say I´m different”, hieß ihr zweites Album und das war deutlich untertrieben.

Betty Davis war ein Role Model für viele. „Ahead of her time“, hieß es später. Selbstbestimmter konnte man in den frühen 70ern als schwarze Frau kaum sein. Sie schrieb alle Songs selbst, sie sang den Musikern deren Parts vor, sie arrangierte und ab dem zweiten Album produzierte sie ihre Musik auch selbst.

Das zweite Album profitierte im Vergleich zum ersten vom besseren Songwriting und den expliziteren Texten (ja, der Ausdruck „explicit lyrics“ wurde vermutlich für Betty Davis erfunden), aber ich habe mich in diesem Blog für ihr Debut entschieden, denn schon die ersten 15 Sekunden des ersten Tracks „If I´m in luck I might get picked up“ mit dem dröhnenden Bass machen klar, dass von dieser Frau in eben dieser Minute Funk neu definiert wird.

Echter Funk. Nichts Weichgespültes wie Earth, Wind and Fire oder Kool & The Gang. „P-Funk“ (Pure Funk) reklamierten George Clinton und Bootsy Collins mit Parliament später für sich. Aber wirklicher Pure Funk, das ist Betty Davis. Sie ist funky in jedem Ton, in jedem Wort. Niemals war der Funk härter, kompromissloser und nie war er – das Wort muss jetzt einfach sein – so sexy wie bei Betty Davis.

Betty Mabry heiratete mit 24 Jahren einen gewissen Miles Davis und behielt nach der Scheidung seinen Namen bei. Er profitierte dafür von ihrem Einfluss auf seine Musik – der Fusion-Stil auf „Bitches Brew“ wird in gewissem Maß ihr zugeschrieben.

Den Deal mit der Plattenfirma verschaffte ihr hingegen einer ihrer späteren Partner, nämlich der Santana-Percussionist Michael Carabello. Bei Eric Clapton und Marc Bolan hatte sie noch Nein gesagt, da für sie die musikalischen Stile zu weit auseinander lagen. Carabello brachte noch Santana-Gitarrist Neal Schon mit, aber vor allem war es Larry Graham, vorher bei Sly & The Family Stone, der mit seinem Bass den Sound prägte.  Wie gesagt mit Basslinien, die ihm die Chefin vorsang, denn diese Frau wusste genau, was sie wollte und nicht wollte.

Sie integrierte in ihrem Debut ein wenig Rock, ein wenig Blues und ein wenig Jazz, aber heraus kam Hardcore-Funk. Weniger Bläser als gewohnt, dafür mehr Keyboards, mehr Gitarre und vor allem mehr Bass. Erykah Badu oder Rick James brauchten später nur das Rezept mit weniger Schärfe nachzukochen, um reich zu werden.

Der bekannte US-Kritiker Robert Christgau monierte einmal, Betty hätte eine „narrow voice“. Ja, stimmt, sie konnte auch im klassischen Sinn nicht gut singen, aber was für eine Emotion, was für eine Sexualität hatte sie in ihrer Stimme. Madonna oder Prince hätten für diesen Ausdruck die Hälfte ihres Vermögens gegeben. Christgau bemängelte auch den Mangel an „melodic gift“. Stimmt auch, manche schrieben bessere Songs, aber hier zählt ausnahmsweise der Sound. Und der ist einfach einzigartig.

„You couldn´t tame Betty Davis“, sagte Carlos Santana einmal. Im Zweifel lief es höchstens andersrum, wie man auf ihrem zweiten Album nachhören kann. Der Songtitel „He was a big Freak“ ist noch die harmloseste Zeile im Text.

Nur 29 Minuten war ihr Debutalbum lang, aber was für eine Tour de Force. Einfach unglaublich.

Sonntag, 11. Juni 2023

Dead Boys - Young, Loud and Snotty

 

Dead Boys – Young, Loud and Snotty

Sire Records 1977

Mit dem US-Punk war das so eine Sache. Die Urahnen des Punks stammten alle aus den Staaten: Iggy Pop, Lou Reed oder die MC5. Die erste richtige Punk-Band, die Ramones, kamen ebenso aus New York City wie das namensgebende Magazin. Und als Punk groß wurde, 1976 und 77, übernahmen plötzlich die Engländer: Die Sex Pistols, The Damned oder The Clash. Und zwei Dutzend andere aus dem United Kingdom. Und in den USA firmierten plötzlich Bands als Punk, nur weil sie im New Yorker CBGB-Club auftraten. Allerdings trennten Television, Blondie oder die Talking Heads musikalisch Welten von den Ramones.

In der großen Welle des Punks schwammen eigentlich nur zwei US-Bands richtig mit: Die Heartbreakers von Johnny Thunders, als ehemaliger Gitarrist der New York Dolls bereits vorbelastet, und eben die Dead Boys aus Cleveland. Vielleicht lag es an ihrer im Niedergang befindlichen Heimatstadt, aber die Dead Boys waren lauter, roher und aggressiver als der Rest jenseits des Großen Teichs. Aus der Resten der Lokalband Rocket from the Tombs entstanden die Dead Boys auf der einen Seite und David Thomas formte auf der musikalisch gänzlich anderen Seite des Jahres 1975 Pere Ubu.

Joey Ramone selbst überredete die Dead Boys zur Übersiedlung nach NYC. Bald machten sie sich im CBGB einen Namen als die Band mit der wildesten Bühnenshow, bei der auch regelmäßig Blut floss.  Glasscherben-Freund Iggy Pop ließ grüßen und Club-Besitzer Hilly Kristal übernahm persönlich den Job als ihr Manager. Kristal kam dann mit der halbberühmten, fast 40-jährigen Genya Ravan als Produzentin, was der Band anfangs gar nicht schmeckte. Doch Ravan schaffte es, die rohe Energie der Bühnenauftritte einigermaßen in den Promo-Bändern einzufangen, und Sire Records sagte zu den Tapes: Okay, gehen wir doch gleich ins Presswerk. Der Albumtitel „Young, loud and snotty“ ist jedenfalls mehr als berechtigt, denn die Dead Boys waren alles im Übermaß.

Sie eröffneten das Album mit ihrem nach wie vor besten Titel, „Sonic Reducer“. Zuerst hört man noch ihre frühen Erfahrungen im Glam-Rock, doch aus dem ganzen Hall der ersten 15 Sekunden schält sich ein klassisches, treibendes Punk-Riff.  AllMusic bezeichnete den Song als „one of punk´s great anthems“. Stiv Bators macht klar, dass er Johnny Rotten den Titel als rotzigster Sänger der Welt in einem einzigen Song abnehmen will. Spätestens mit dem zweiten Track „All this and more“(„All this and more, little girl, how about on the floor, little girl”) ist dieser Anspruch gerechtfertigt.  

In den folgenden acht Tracks lässt die Band nur wenig nach. Mit „Hey Little Girl“ (ja, schon wieder) bringen sie sogar einen mittleren 60s-Hit als Live-Track aus dem CBGB. Direkt danach deklamiert Bators: „I need lunch“. Das hört sich so an: “I don’t need your company, girls like you all come for free, I don’t really want to dance, girl, I just want to get in your pants.” Noch Fragen?

Ein knappes Jahr später folgte ein zweites Album, bei dem sie ausgerechnet Felix Pappalardi, den Jack Bruce von Mountain, als Produzenten vorgesetzt bekamen. Fast logischerweise war dies das Ende der Dead Boys und Sänger Stiv Bators versuchte mit Resten von Sham 69 den Gothic Rock, wohl zehn Jahre zu früh, neu zu erfinden. Danach kam er unter ein Taxi in Paris. Ich spare mir den Witz mit den Dead Boys. Oder auch nur halb.

Montag, 5. Juni 2023

The dB´s - Stands for Decibels + Repercussion

 

The dB´s - Stands for Decibels + Repercussion

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Albion Records / Line Records 1981 (1992)

Power Pop ist ein eher schwieriges Genre. Pop-taugliche Hooks und Vocals mit energiereichem Rock zu kombinieren und dennoch ein stimmiges Ganzes zu schaffen, ist nicht leicht umzusetzen. Die frühen Weezer und Sugar gelten für mich als Meister des Fachs, Nada Surf schafften es manchmal in Hörweite der beiden.

Noch bevor es den Begriff überhaupt gab, erreichten im Windschatten des Punks einige Bands dieses Fahrwasser. Die Records aus England beispielsweise oder eben auch die dB´s aus New York City. Wobei alle vier Mitglieder dieser Band aus North Carolina stammen, was man manchmal hört, wenn die Schwüle des US-Südens die Gitarren wärmer und freundlicher klingen lässt als in Manchester oder Sheffield.

1981 erschien das Debut „Stands for Decibels“, das gleich den ungewöhnlichen Bandnamen "dB´s" aufschlüsselte. Das Album gilt mittlerweile als „landmark power pop album“ (AllMusic). Es war dennoch so erfolglos, dass die Band sogleich nach Großbritannien flüchtete und sich als Vorband der entfernt artverwandten Soft Boys (Robyn Hitchcock!) verdingte. Der Nachfolger „Repercussion“ erschien noch im selben Jahr und war noch eine Spur poppiger, eingängiger, für mich auch besser. Wie praktisch, dass beide Alben 1992 auf Line Records als Doppel-CD-Album wiederveröffentlicht wurden. Das ergänzte – hochwillkommen - meine Sammlung und erleichterte meine Auswahl für diesen Blog.

Die Musik der dB´s wurde mitgeprägt vom Zusammenwirken zweier Songwriter. Einer eher für den Pop, einer eher für die experimentelleren Sounds. Kommt einen irgendwie bekannt vor, obwohl Chris Stamey und Peter Holsapple weniger direkt zusammenarbeiteten und mehr die Songs gleichberechtigt über das Album verteilten. Beide saßen jedoch bequem auf den Schultern des 60er-Jangle-Pops. So trafen sich eingängige Hooks, charmante Harmonien und vorwärtsziehende Gitarren – und das alles mit juveniler Unbekümmertheit und hörbarer Freude an der eigenen Arbeit.

Das musikhistorisch wichtigere Album ist „Stands for Decibels“. Es bedeutet eine Wiederbelebung des Sounds von Big Star und ebnete den Weg für den College Rock von Yo La Tengo und den frühen R.E.M. Das eingängigere und für mich bessere Album ist „Repercussion“. Man höre nur die ersten drei Songs des Albums „Happenstance“, „We were happy there“ und „Living a lie“. Oder etwas später im achten Track "Neverland". Das sind Melodien für Ewigkeit – dargeboten mit dem vergänglichen Anything-goes-Charme der Jugend.

https://youtu.be/hfpli2VQtZU


Diverse – The Roxy London WC2

 

Diverse – The Roxy London WC2 (Jan – Apr 77)

Harvest Records 1977

Punk kam endgültig nach London am 4. Juli 1976 mit einem Konzert der Ramones im Roundhouse vor 2000 begeisterten Zuhörern. Doch die britischen Bands der ersten Stunde, die sich durch den Einfluss der Ramones formten, mussten mit deutlich kleineren Locations Vorlieb nehmen. Es waren kleine Kellerlokale, in denen sich diese neue Jugendkultur festsetzte – vor allem das Roxy in Covent Garden und das Vortex in Soho.

Nur folgerichtig, dass das erste Live-Dokument des britischen Punks im Roxy, einem früheren Warenlager für Obst und Gemüse, mitgeschnitten wurde. Und nichts später fing diesen Moment des jugendlichen Aufbegehrens so eindrücklich ein wie dieses Album. Es waren nicht die ganz großen Namen, die sich hier in die Punk-Annalen eintrugen. Keine Sex Pistols, keine Clash, keine Damned.

Eröffnet wird von Slaughter & The Dogs, doch ihr „Runaway“ hat alles, was ein guter Punk-Song braucht: Er ist roh, laut, schnell und der rotzige Text transportiert sogar eine eingängige Hookline. Mit „Boston Babies“ legen sie sogar noch an Tempo zu und es kümmert keinen, ob Gitarre, Bass und Drums exakt im gleichen Takt spielen. Es fetzt.

The Unwanted machen dann ihrem Namen Ehre, doch zwei ihrer Mitglieder schafften es später zu den Psychedelic Furs. Es folgt der erste dokumentierte Live-Auftritt der Post-Punk-Halbgötter: „We´re Wire“, gibt Colin Newman gelangweilt von sich, bevor sie mit „Lowdown“ und vor allem mit „1.2.X.U.“ ihre Punk-Wurzeln offenlegen. Die Adverts mit ihrem so programmatischen „Bored Teenagers“ beschließen die erste Seite.  Man hat direkt das Bild im Kopf, wie Gaye Advert mit ihrer Bassgitarre cool in der Ecke steht, während sie von sämtlichen männlichen Jugendlichen im Publikum angegafft wird.

„Jesus, it´s fucking hot here”, stöhnt Johnny Moped ins Mikrofon, bevor er mit seiner Band die Temperatur noch deutlich nach oben treibt. „Hard loving man“ in dieser Version ist vermutlich der schnellste Punk-Song der Geschichte. Eater schafften mit ihren beiden Tracks vermutlich die größte Breitenwirkung ihrer sonst weniger eindrucksvollen Karriere, doch dann schreit sich Poly Styrene als Sängerin von X-Ray-Spex die Seele aus dem Leib und Lora Logic bläst dazu ihr schräges Saxofon. „Oh Bondage! Up Yours!“  

„This one´s really a shitty song”, so kündigt Pete Shelley “Breakdown” seiner Buzzcocks an und kaum jemals irrte er derartig. Mit der Breitseite ihrer „Love Battery“ beschließen sie würdig dieses Zeitdokument aus 1977. Es ist wahrscheinlich eines der schlechtestproduzierten Live-Alben der Rockgeschichte und doch fängt es wie kaum ein anderes die Atmosphäre in diesem Kellerlokal ein. Es folgten später eine Doppel-CD und sogar ein Fünffach-Sampler mit weiteren Acts rund um diese zwölf Songs, doch der Sound blieb ebenso arm wie die Musik eindrucksvoll.

Ambrosia - s/t

  Ambrosia – s/t 20 th  Century Records 1975 Prog-Rock hatte 1975 für mich – mit 16 Jahren – einen schweren Stand. The Who zeichneten „By Nu...