Samstag, 12. März 2022

Tom Verlaine - Words from the front

 

Tom Verlaine – Words from the front

Virgin Records 1982

Im vorigen Beitrag habe ich die These aufgestellt, ein einziger Song könne aus einem guten Album ein Meisterwerk machen. Heute gehe ich noch einen Schritt weiter.

Tom Verlaine sollte als Sänger und Lead-Gitarrist von Television ein Begriff sein. Sie wissen schon, „Marquee Moon“, in der Bestenliste aller Alben auf acclaimed.music Nummer 28. Hinter den Smiths und vor Miles Davis und Prince. Nach zwei formidablen Platten trennten sie sich Mitte 1978 und Verlaine, der sich nach dem französischen Lyriker benannte, machte solo weiter.

Auf zwei gute Alben, die zum Teil übriges Television-Material beinhalten, folgte „Words from the front“, mit dem er sein Songwriting-Spektrum ein deutliches Stück öffnete. Ich könnte es mir leicht machen und mit dem Titeltrack beginnen. Damit wäre der Eintrag in die Bestenliste begründet, aber ich gehe den Umweg.

„Present arrived“ basiert auf einem monotonen Riff mit einer typisch nervösen Verlaine-Melodie. Das Stück könnte vom zweiten Television-Album stammen. Gegen Ende gibt der Großmeister der leidenden Gitarre eine kleine Kostprobe seines Könnens. Das Publikum beginnt zu schmelzen. Dann sendet er eine „Postcard from Waterloo“, eine Retro-Gitarre mit Gruß von Duane Eddy im Gepäck und Lene Lovich singt Background. Ungewohnt entspannt und fast ein Ohrwurm.  Die restlichen zwei Stücke der ersten Seite fallen etwas ab, man merkt, er experimentiert im Songwriting.

Die Platte gewendet und Verlaine erzählt im Titeltrack tagebuchartig von den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Er sendet „Words from the front“, die Gitarre begleitet elegant.  Die vergebliche Hoffnung auf den Heimaturlaub, das Sterben des Freundes und die Angst durch Giftgas zu erblinden. Und nach dem letzten Angstschrei „Blind“ erhebt sich dieses Gitarrensolo aus den Schützengräben, kondensiert all das erlebte Leid. Man sinkt auf die Knie, tief ergriffen von solcher Leidenschaft. Verlaine zählt die Toten – auf 4000 kommt er – und dann lässt er seine Gitarre noch einmal weinen. Die Mutter aller leidenden Gitarrensoli; Schuberts Winterreise ist dagegen eine Sammlung fröhlicher Wanderlieder.

In „Coming apart“ lässt einen der Meister verschnaufen, die Taschentücher auswringen. Nicht der Rede wert außer einiger Duftmarken seiner Fender Jazzmaster. Im Schlusstrack schickt einen Verlaine zu „Days on the mountain“. Einen Kurort hat man sich nach so viel Leid schließlich verdient.  Des Meisters Gitarre klingt nach drei verschiedenen Instrumenten. Den Refrain hat er im Tal vergessen, aber es spielt keine Rolle. Man hat in zwei Gitarrensoli alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmessen.

Fast durchgängig  wird dieses Album in Verlaines Solowerk vernachlässigt zugunsten des Television-haften „Dreamtime“. Natürlich ist „Dreamtime“ das Album mit den besseren Songs, aber man hat völlig falsch gewogen. Ein einziger Track, eine Minute Gitarrenspiel wiegt alles andere mehr als auf. Eine einzige blutige Träne, die aus der Gitarre tropft, wenn er seine „Words from the front“ sendet.




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