A Factory Sample (Diverse)
Factory 1979
Die Do-it-Yourself-Haltung des Punks begrenzte sich nicht auf den Umgang mit Instrumenten, sondern erfasste bald auch das Business. Major-Labels wurden eher als Feinde verstanden. Auch die Sex Pistols waren mit EMI nicht gerade zufrieden, wie sie im gleichnamigen Song deutlich kundtaten und landeten letztlich bei Virgin. Also ging man bald dazu über, selbst Labels zu gründen. Rough Trade war wohl das wichtigste, aber auch Mute Records hält sich seit den Punk-Tagen gut im Business. Man nannte sie Independents und der Name wurde mit der Zeit sogar zu einer eigenen Musikrichtung.
In Manchester entstand 1978 Factory Records, in einem Auftrittslokal gleichen Namens. Die erste Veröffentlichung war eine „A Factory Sample“ benannte Doppel-EP im 7-inch-Format mit vier lokalen Acts. Das Cover ein zusammengefaltetes Blatt aus Reispapier, mit Silber bedruckt und mit vier seltsamen Fotos und Grafiken als Beilage. Zusammen enthielt dieser Sampler im Singles-Format neun Tracks, die zum Teil die weitere Musikgeschichte maßgeblich beeinflussen sollten.
Die ersten beiden Tracks gehörten einer Band, die gerade den Namen Warsaw abgelegt und bereits als Vorgruppe zu Acts wie Suicide oder A Certain Ratio erste Live-Praxis gesammelt hatte. Die Studioaufnahmen spielte sie bereits unter dem neuen Namen Joy Division ein. Zwei Jahre später sollte sie zur wichtigsten und einflussreichsten Band der späten 70er-Jahre geworden sein. Beide Songs, „Glass“ und „Digital“, wurden nicht in die beiden regulären Alben der Band übernommen, sondern erst auf dem nach Auflösung der Band erschienenen Sampler „Still“ wiederveröffentlicht. „Digital“, der erste von ihnen erschienene Track, wurde tragischerweise auch zum letzten Song, den Joy Division jemals spielte. Am 2. Mai 1980 schlossen sie damit ihr Konzert in Birmingham; 16 Tage später erhängte sich Sänger Ian Curtis und der Rest der Gruppe wurde zu New Order.
Doch weg von der Historie und hin zur Musik. Mit den ersten kalten Gitarrentönen von „Digital“ wurde zwei Monate nach Siouxsie + The Banshees Album „The Scream“ endgültig der Post-Punk, die New Wave, etabliert. „Feel it closing in, the fear of whom I call, everytime I call, I feel it closing in.” Johnny Rotten oder Joe Strummer hätten solche Zeilen nicht gesungen, aber Ian Curtis fühlte sie, riss sie aus seinem geschundenen Geist. Und das hörte man in jeder Sekunde. Ebenso hätten Steve Jones von den Sex Pistols oder Mick Jones von The Clash niemals solch eine klaustrophobische Gitarre dazu gespielt wie Bernard Sumner. Statt Wut und Zorn hörte man pure Verzweiflung. Nicht einmal Scott Walker rührte einen jemals so wie der Schmerz in Curtis´ Gesang. Zwei Jahre später wusste man, warum: Es war alles zu 100 Prozent authentisch, jeder Ton, jede Zeile.
Auf der zweiten Seite beginnt die Durutti Column – oder auch Gitarrist Vini Reilly mit sechs wechselnden Musikern – die deutlich bescheidenere Karriere. Dafür hielt sie etwa 20 Jahre lang. Sie benannten sich nach einer spanischen Anarchisten-Einheit, klangen aber auf dem ersten Song „No Communication“ ähnlich kalt wie Joy Division. Erst auf dem zweiten Track „Thin Ice“ offenbarte sich Reillys Vorliebe für verspielten, atmosphärischen Gitarrensound.
Die zweite EP bietet einen völligen Stilbruch. John Dowie, ein englischer Stand-Up-Comedian, performt drei kurze, skurrile Songs über „Acne“, „Idiot“ und „Hitler´s liver“ Zu eingängiger, aber nicht dem Zeitgeist verpflichteter Rockmusik singt Dowie Verse wie: „Hitler’s liver is a liver liverestly weird, When you wear it as wig or rub it in your beard, Nail it to a passerby or force it down his throat, Cover it in furry stuff and kick it like goat. Hitler’s liver – yum yum yum.“
Jedenfalls macht Dowie deutlich mehr Spaß als die letzte Band – Cabaret Voltaire. Der erste Track beginnt mit einem Original-Soundclip aus einer deutschen Nachrichtensendung über die Selbstmorde der RAF-Terroristen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe. Über die gesprochenen Texte mit Fragen wie „Are they the heroes?“ legen sich Soundcollagen – hauptsächlich mit dem Synthesizer eingespielt. Auf dem zweiten Track „Sex in secret“ dominieren Rhythmus-Box und verzerrte Stimmen – kombiniert mit diversen Geräuschen und einer Gitarre, die wie ein Synthie klingt. Die erste britische Wurzel des Industrial-Sounds hat sich in die nordenglische Erde gebohrt.
Nur 5000 Stück dieser Compilation wurden gepresst, aber Bands von The Cure, U2, Bloc Party, Editors, Interpol bis zu Nine Inch Nails und Ministry beriefen sich später auf diese hier entstandene Musik.
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