Mittwoch, 30. März 2022

Mythen in Tüten - Die neue Kollektion


 No Fun Records 1981

Wir schreiben das Jahr 1979. Punk hat seine Halbwertszeit deutlich überschritten. Die Sex Pistols sind tot, die zweite große Punk-Band, The Clash, bringt mit „London Calling” ein Rock-Album ohne Punk heraus und Joy Division lassen mit ihrem ersten Album endgültig die „New Wave“ über das UK rollen.

In Deutschland hat man den Punk aufgegriffen und wagt es wieder einmal, in Deutsch zu singen. Vorher war das in der Rockmusik Einzelgängern wie Kraftwerk, Ton Steine Scherben oder Udo Lindenberg vorbehalten gewesen. Der „Sounds“-Journalist Alfred Hilsberg greift erstmals den Begriff „Neue Deutsche Welle“ auf. Alle Bands, die zu diesem Zeitpunkt darunter fallen wie Mittagspause, S.Y.P.H., KFC oder auch die frühen DAF sind gegen Pop-Einflüsse weitgehend immun und humorfrei ohnehin.

In Düsseldorf wird in diesem Jahr „Der Plan“ gegründet und in Hannover die weniger bekannten „Mythen in Tüten“. Beide Bands, später sollte noch Foyer Des Arts dazu kommen, haben einen frischen Zugang zum Thema. Erlaubt ist, was Spaß macht.  „Der Plan“ kommt aus der Elektronik-Ecke, „Mythen in Tüten“ schöpfen in ihrer Rhythmus-Sektion eher aus Ska und Funk, das Saxophon erinnert an leichten bis manchmal schweren Jazz und die Keyboards sind billig, vermutlich für 199 D-Mark im Karstadt gekauft.

Beide Bands haben Sinn für Nonsens und beide Bands haben keine Berührungsängste mit dem Gottseibeiuns der deutschen Musik, dem Schlager. Zwar ist der Zugang ironisch gebrochen, aber die beiden Gruppen öffnen die Tür, durch die später Nena, Markus oder Hubert Kah von der anderen Seite aus stürmen und aus der Neuen Deutschen Welle die NDW machen.

Es dauert fast zwei Jahre, bis „Mythen in Tüten“ den Vertrag für ein ganzes Album erhält, obwohl das Label ebenso wie sie in Hannover sitzt. Doch allein der Name der Plattenfirma „No Fun Records“ zeigt bereits, dass man nicht nur Gemeinsamkeiten hat. Label-Acts wie Hans-A-Plast oder Rotzkotz fallen definitiv unter ironiebefreit, während „Mythen in Tüten“ auf ihrem Debutalbum aus der DAF-Hymne „Der Mussolini“ dann „Tanz den Tortellini – und jetzt den Maccaroni“ machen.

Ebenso schräg wie die Texte ist der Gesang, aber vielleicht gerade deshalb schreckt man auch nicht vor Zeilen wie „Mein Herz macht Dam-di-di-dam“ zurück. Dafür entstehen kleine Geniestreiche wie „Waren Sie schon einmal in Sansibar? Wenn ja, wie fanden Sie´s denn da? – Ja, ich war schon einmal in Sansibar und ich fand es dort sehr sonderbar“. Das funktioniert dann auch mit Kalkutta und Fischkutter und entwickelt einen ungemeinen Charme.

Mythen in Tüten schafften noch ein zweites Album und mit diesem das Kunststück, noch erfolgloser zu sein. Dennoch wurde das Debutalbum 2006 und noch einmal 2010 auf CD wiederveröffentlicht. Eine „neue Kollektion“ sozusagen.




Freitag, 18. März 2022

Neil´s Heavy Concept Album

Neil – Neil´s Heavy Concept Album

 


Warner Music 1984

 

Franz Zappa stellte 1984 die vermutlich nur rhetorische Frage „Does humor belong in music?“

Von meiner Seite wird dies mit einem klaren „Ja, selbstverständlich“ beantwortet und ich komme zum Beispiel noch mit den phantastischen HeeBeeGeeBees später darauf zurück.

 

Ein ebenfalls gelungenes Beispiel ist das – im gleichen Jahr wie das Zappa-Album – erschienene Heavy Concept Album von Neil. Bei Neil handelt es sich um eine Kunstfigur aus der einflussreichen BBC-Comedy-Serie „The Young Ones“. Neil Pye ist der Hippie in der Studenten-WG, dauernd bekifft, dauernd in Schwierigkeiten, aber dennoch freundlich bis herzerweichend.

 

Dahinter stand der Schauspieler und Comedian Nigel Planer, der unter anderem auch in Musicals wie „Evita“ mitwirkte. Die Prog-Rock-Band Marillion fragte ihn als Vorprogramm an und so tat sich Planer mit dem Multiinstrumentalisten Dave Stewart (nicht jener von Eurythmics, sondern der mit Barbara Gaskin und dem 81er-UK-Hit „It´s my party“) zusammen. Am Album zusätzlich mitgewirkt haben noch Musiker von Gong, Spooky Tooth oder Level 42, die den Auftrag von akustischem Folk über Psychedelia bis Metal perfekt umsetzten.

 

Heraus kam eine Parodie von Konzept-Alben der späten 60er und frühen 70er, der Hippie-Zeit eben. Aber schon in den ersten Sekunden bedauert Neil:

 

Hello vegetables
This is Neil here, right
Um, look, I, um
I don't want to spoil the whole record for you, right
Before it's even begun
But I just wanted to say
That the whole thing was quite a lot of hassle to make, right
And it didn't turn out like I expected it at all
I mean, for a start there's just much too much technology
And commercial stuff on it, right

 

Er setzt fort mit “Hole in my shoe“, dem Hit von Traffic aus 1967, den er mit Sitar-Klängen anreichert. Dem UK-Top-3-Hit vorangestellt wird aber eine weitere Entschuldigung: „Sorry shoes, but I have to stand on you again.“

Anschließend unterhält sich Neil mit seiner Zimmerpflanze, wird den Abfluss hinuntergespült, trifft dort eine stinkige Kartoffel oder isst als strikter Vegetarier einen Hamburger, was ihn in „Neil the Barbarian“ verwandelt. Eben die Dinge, die Hippies so passieren. Letzteres Missgeschick beschert Neil dann einen „Lentil Nightmare“, in dem Black Sabbaths gleichnamiger Song mit „The Court of the Crimson King“ gekreuzt wird.

 

Später freut Neil sich auf eine ruhige akustische Nummer:


Right okay no more technology, no more synthesizers
I'm just gonna do a really beautiful whole earth acoustic number for you now, right
Just like voice and guitar and we can all get really mellow

Okay here it goes: Hurdy Gurdy mushroom man has locked me in a frying pan

Don´t wanna get out of bed today cos there´s bad, bad karma in the UK

 

Worauf seine Mutter – Barbara Gaskin - anruft und Neil das Rappen lernen muss, am Ende aber seinen Spaß daran findet. Nicht so viel allerdings wie sein Publikum bei diesem Highlight der Darf-auch-Humor-haben-Rockmusik.


https://www.youtube.com/watch?v=5WKdL__mu0o


Montag, 14. März 2022

Robbie Nevil - s/t

 

Robbie Nevil – s/t

Manhattan Records 1986

Es ist eine schon öfter erzählte Geschichte: Einigermaßen erfolgreicher Songwriter möchte es selbst als Interpret der eigenen Werke versuchen. Oft klappt es kaum, hier klappte es wunderbar.

Die Vorgeschichte: Weißer Junge lernt Gitarre, spielt in einer Cover-Band zuhause in Los Angeles, findet Gefallen an schwarzem Funk-Pop, beginnt Songs zu schreiben und siehe da: bewunderte Acts wie Earth, Wind + Fire oder die Pointer Sisters kaufen einzelne Songs.

Drei Jahre später bekommt er den Plattenvertrag als eigener Interpret und Produzent Alex Sadkin, der Erfahrung von Bob Marley über Joe Cocker bis Duran Duran mitbringt, hat endlich Zeit. Robbie Nevil hat zehn Songs und eine gewisse Vorstellung über den Sound im Gepäck.

Heraus kommt eine Mischung aus Pop, frühem R+B und Radio-tauglichem Funk, gewürzt noch mit einem Hauch Karibik und Latin Music. Für diese Zeit innovativ war der Einsatz von Marimbas und anderen damals exotischen Percussion-Instrumenten. Und der begabte Junge aus LA hat zwar keine große Stimme, kann aber wandlungsfähig singen. Vor allem aber zeigt sich, dass er mit seinen Songs kleine Perlen bis große Meisterwerke mitgebracht hat. Wie damals üblich werden Uptempo-Nummern mit Balladen ergänzt, doch bei Nevil sind es keine Füller.

Einen der mitgebrachten Songs hat er schon drei Jahre vorher an einen Gospel-Sänger namens Beau Williams gegeben, doch Robbie möchte ihn auch selbst aufnehmen. Es wird zu einem Percussion-Feuerwerk mit innovativem Sound und mächtigem Refrain. Einige Zeit ringen sie mit der Plattenfirma und tatsächlich wird der Second-Hand-Song die erste Single des Albums.

„C´est la vie“ marschiert in Folge bis auf Platz 2 der Billboard-Charts. Die beiden Folge-Singles „Dominoes“ und „Wot´s it to ya” sind nicht mehr so erfolgreich und das Album schafft es trotz des Hits „C´est la vie“ nicht in die Top 30.

Dennoch ist es auch 35 Jahre später noch ein funkelndes Pop-Meisterwerk, das sich nicht wie manche 80er-Produktionen mit der Zeit abgenutzt hat. Der Sound ist so vielfältig und für die damalige Zeit zukunftsweisend, die Rhythmen so packend und das Songwriting vor allem auf der ersten Seite so herausragend, dass es keinerlei Staub angesetzt hat. Vergessen wurde es dennoch.

Um Robbie Nevil muss man sich trotzdem keine Sorgen machen. Obwohl beide Folgealben floppen, schreibt und produziert er in Folge für Babyface, Jessica Simpson oder Destiny´s Child und wird später für Projekte wie Hannah Montana oder High School Musical angefragt. Irgendwie muss man schließlich die Familie versorgen und die Rechnungen zahlen.




Shara Nelson - What silence knows

 

Shara Nelson – What silence knows

Cooltempo Records 1993

Der Name Shara Nelson mag manchen noch ein wenig geläufig sein. In den späten 80er-Jahren arbeitete sie in Bristol als Sängerin mit dem DJ-Team The Wild Bunch zusammen. Teile davon wurden dann zu Massive Attack. Ja, genau die. Die Trip-Hop-Legende.

Während der Aufnahmen zu deren Debutalbum sang Nelson in einer Pause eine eigene Song-Skizze namens „Kiss and tell“. Die mithörenden Massive Attack-Mitglieder fanden, das hätte was, daraus ließe sich vielleicht was machen. Es wurde zu „Unfinished Sympathy“, einem mittleren Hit in vielen europäischen Ländern und vor allem zu einem Fix-Bestandteil in allen Listen der besten Songs. Die Meta-Bestenliste Acclaimed Music führt ihn auf Platz 63 der besten 3000 Songs aller Zeiten. Shara Nelson war übrigens auch noch an einigen anderen Songs von „Blue Lines“, dem ersten Massive Attack-Album, als Mit-Autorin beteiligt. Song-Schreiben kann die Dame also.

Zwei Jahre später hatte sie noch einige neue Songs parat, drei davon mit niemand Geringerem als Prince als Co-Autor. Sie versuchte es solo und blieb dem Trip-Hop-Stil von Massive Attack nahe, wenn auch mit mehr Soul und etwas mehr Pop-Appeal. Immerhin schaffte es die gemeinsam mit Prince geschriebene erste Single „Down that road“ auf Platz 19 der UK-Charts.

Die restlichen Songs sind mit einer einzigen Ausnahme (ausgerechnet dem Titel-Track) gleich oder fast so gut. „What silence knows“ ist daher ein Album mit exzellentem Song-Writing, interessantem Sound und bietet feinsten, eingängigen Trip-Hop. So weit, so gut.

Was das Album aber für mich in einzigartige Höhen hebt, ist die Stimme von Shara Nelson. Es gibt einen Song von Back Street Crawler, der Band von Paul Kossoff, als er bei Free ausstieg, namens „The sound of molten gold“. Seit ich das Shara Nelson-Album kenne, weiß ich, wie sich geschmolzenes Gold anhört. Ich höre, wie es gleichzeitig schimmert und verbrennt, während es träge dahinfließt.

Es gibt einige Frauen, von denen ich Alben alleine wegen ihrer Stimme und ihres Gesangs hören würde. Egal, was sie singen, es könnte sogar deutscher Schlager sein, um ein Extrembeispiel heranzuziehen. Sandy Denny zählt dazu, Grace Slick, Siouxsie Sioux oder Mavis Staples. Aber allein die göttliche Aretha Franklin, die beste von allen, schafft es, mich mit ihrer Stimme in gleichem Maße zu rühren, mir Tränen der Ergriffenheit in die Augen zu treiben, wie Shara Nelson.

Die Ungerechtigkeit der Musik-Welt bewies sich einmal mehr: Nach einem erfolglosen zweiten Album verschwand Shara Nelson weitgehend in Vergessenheit und dieser Schatz der Menschheit, würdig eines UNESCO-Weltkulturerbes, blieb unbekannt, ungenutzt. Mit Ausnahme meines Wohnzimmers.




Niagara - Religion

 

Niagara – Religion

Polydor 1990

Ehrenrettungsversuch für den französischen Rock – Teil 2. Netterweise im Alphabet knapp neben Noir Désir. Niagara sind ein 1984 in Rennes gegründetes Duo, bestehend aus Muriel Laporte (Gesang und Texte) und Daniel Chevenez (mehr oder weniger der Rest). Namensgeber war der Marilyn-Monroe-Film, aus dem sich Laporte auch gleich eine ihrer Haarfarben entlehnte.

Das Ganze erinnert ein wenig an die Eurythmics; die Schöne und das ungeheuer – im Hintergrund bleibende Mannsbild. So wie die berühmten Briten stehen sie mit einem Bein im Pop. Die ersten beiden Alben fallen wohl noch unter Synth-Pop, doch im dritten Album „Religion“ wandeln sich die Franzosen, und das zweite Bein macht einen heftigen Sprung in Richtung Hard-Rock, gleichzeitig aber auch einen Schritt Richtung Soul und Funk. Anatomisch schwieriger als musikalisch, wie sie gleich zu Beginn beweisen.

In „Le ciel s´est déchiré” setzt Chevenez nach fünf Sekunden Elektronik-Geschwurbel ein extra-lässiges Gitarrenriff hin, vier Takte später fahren die Bläser, Marke Stax Records – extra scharf, hinein und Laporte gibt die Motorradrocker-Braut. Und im anschließenden „J´ai vu“ lässt Chevenez noch ein breitbeiniges Mörderriff heraus, kontrastiert dieses aber mit Mundharmonika (remember „Missionary Man“ der Eurythmics?), Slide-Gitarre und einer Booker T.-Orgel. Das Ganze geht ab wie eine Horde Bisons, nachdem sie den Waldbrand gerochen haben. Merke: Viel Gras lassen die nicht stehen. Aber Vorsicht: Falls man sich das Video ansieht, könnte man durchaus von der Musik abgelenkt sein…

Allein diese ersten beiden Songs haben mehr als viele bekanntere Bands in ihrer ganzen Karriere zusammengebracht haben – nur dass Niagara das Niveau stellenweise halten können. Chevenez produzierte selbst, geradeaus und druckvoll. Im vierten Track zeigen sie, dass sie auch Gefühlvolleres im Repertoire haben, da duftet sogar das „Herbe écrasée“, das zerkleinerte Gras.

Das Album ging bis auf Platz 17 der französischen Charts und auch einige Leute im französischsprachigen Teil von Kanada waren anlässlich einer Tour so begeistert, dass ihnen ein US-Plattenvertrag angeboten wurde. Die Bedingung war aber, dass künftig in Englisch gesungen werden müsste. Niagara machte noch für ein viertes, fast ebenso gutes Album in ihrer Muttersprache weiter. Womit wir wieder am Anfang wären, warum es so wenige bekannte französische Rock-Acts gibt…




Noir Désir - Tostaky

 

Noir Désir – Tostaky

Barclay 1992

Für eine der größten Kulturnationen der Welt hat Frankreich in Sachen Rockmusik noch deutlich Luft nach oben. Ja, viel kommt da nicht spontan, wenn man den Satz liest, oder? Je nach Alter und Verfasstheit vielleicht Johnny Hallyday, Magma, Le Rita Mitsouko, Mano Negra oder zuletzt Christine and The Queens. Nicht besonders beeindruckend für eine Nation mit de Balzac, Moliere, Proust, Baudelaire oder zuletzt Houellebecq, Liste je nach Geschmack mit den nächsten 100 Namen zu ergänzen – vervollständigen wäre als Wort hier eine Zumutung.

Ein Grund liegt sicher in der noch fast durchgängigen Weigerung, in einer anderen als der eigenen Sprache zu singen. Ein wenig davon abgewichen sind Noir Désir (schwarze Begierde), eine 1987 gegründete Band aus Bordeaux, die zumindest manche Songs auf Englisch verfasste. Zuweilen streuten sie auch nur einzelne englische Zeilen ein, wenn sie gegen Faschismus, Kapitalismus, Globalisierung oder Gewalt (zum letzteren noch später) ansangen.

In 14 Jahren ihres Bestehens veröffentlichten sie sechs Studioalben und wurden damit weltberühmt in Frankreich, ein wenig vielleicht noch in der einen Hälfte von Belgien. Musikalisch wären sie heute im Alternative Rock zu verorten, Sub-Abteilung Grunge, aber mit Einflüssen von arabischer Musik über Elektronik bis zum Chanson. Ohne geht es wohl nicht.

„Tostaky“ ist ihr viertes Album, einige Monate nach „Nevermind“ erschienen. Sänger Bertrand Cantat nahm ein Jahr Auszeit, schrieb neue Songs, und der Rest der Band hörte in der Zwischenzeit Fugazi und Sonic Youth. Von Fugazi holten sie sich auch gleich den Produzenten des ersten Albums, Ted Niceley.

Heraus kam französischer Grunge, manchmal im Leise-Laut-Schema, manchmal mit punkbeeinflussten Ausbrüchen, manchmal lyrisch-ruhig. Stellenweise entwickelten sie aber eine Wucht und Gewalt, dass sich berühmtere Kollegen in Seattle anhalten mussten.

Es blieb ihr druckvollstes, konsistentestes und bestes Album, wenngleich sie auf ihrem letzten Werk mit „Le vent nous portera“ 2001 noch einen kleinen, extrem entspannten Indie-Hit landeten. Doch zwei Jahre später kam es zwischen Cantat und seiner Partnerin, der Schauspielerin Marie Trintignant, in einem litauischen Hotelzimmer zu einer Eifersuchts-Auseinandersetzung, bei der ihr Cantat so brutal gegen den Kopf schlug, dass sie einen Tag später im Krankenhaus verstarb. Soweit zum Thema Texte gegen Gewalt.




The Only Ones - Even Serpents Shine

 

The Only Ones – Even Serpents Shine

CBS 1979

Für mich waren die 1976 gegründeten Only Ones immer sowas wie ein Pendant zur US-Band Television. Beide wurden zu ihrer Zeit als Punk und New Wave gehandelt, passten aber kaum in diese Schublade. So wie der sich selbst nach einem französischen Symbolismus-Lyriker nennende Tom Verlaine neigte auch Only Ones-Gründer Peter Perrett mehr zu poetischen Texten rund um die Themen zerbrochene Liebe, unerwiderte Liebe und hoffnungslose Liebe statt zu Straßenkampfparolen für ein brennendes London.

Beide Bands pflegten das spannungsgeladene Zusammenspiel zweier Gitarren – ein Unding im Punk – und beide Chefs schickten ihre Soli jubilierend himmelwärts. The Only Ones gingen sogar so weit, ein Instrumental als Ausklang mit auf das Album zu nehmen.  Wenn der Gesang mehrstimmig wurde, erinnerte er sicher nicht an Fußballchöre, und Perretts Einsatz seiner Stimme war sehr viel näher bei Lou Reed als bei Johnny Rotten.

Dennoch wurde ihr Debutalbum als Punk gehandelt und der zweite Track „Another girl, another planet“ findet sich noch immer auf manchem Punk-Sampler. Elf Jahre später verschaffte ihnen eine solche Compilation sogar die einzige Charts-Platzierung in den UK-Charts, auch wenn es nur bis Rang 57 ging. In der Folge coverten sogar Bands von Libertines bis Blink 182 den Song, der 1977 noch wenig Beachtung fand.

Ich habe dennoch das zweite Album „Even Serpents Shine“ ausgewählt. Es ist das musikalisch konsistentere Werk. Die Band hatte ihren Stil gefunden und fünf der sechs Songs auf Seite Eins sind fast so gut und eingängig wie „Another girl, another planet“.

Im Erdgeschoss werken der ehemalige Spooky Tooth-Drummer Mike Kellie und Bassist Alan Mair, der auch schon fast 15 Jahre Musikerfahrung am Buckel hatte, und sie verstehen ihr Handwerk perfekt.  Im Obergeschoß mit ausladender Terrasse tanzen die beiden Gitarristen in perfekter Abstimmung und manchmal laden sie ein Klavier oder ein Saxophon zur Party. Das Ganze ist – britisch bleibend – eher im Spannungsfeld zwischen Mott The Hoople und Bill Nelsons Be-Bop Deluxe (man höre sich nur Perretts fließendes Spiel auf „Inbetweens“ samt imitierter Möwe an) als zwischen The Clash und Sex Pistols anzusiedeln.

Ein nicht mehr ganz den eigenen Standard haltendes drittes Album und eine US-Tour als Opener von The Who sollten noch folgen, dann löste sich die Band auf.




John Otway - Where did I go right?

 

John Otway – Where did I go right?

Polydor 1979

John Otway, die zweite, und zweifellos verdient der „Patron Saint of Losers“, wie er sich später auf einem Album selbst nannte, zwei Einträge. Nach zwei furiosen Alben zusammen mit dem Gitarren-Berserker Wild Willy Barrett trennten sich die beiden trotz eines aufrechten Fünf-Alben-Vertrags mit Polydor.

Otway kam die ursprünglich ins Auge gefasste Band abhanden und Neil Innes, ein ebenfalls mit viel Humor und Monty Python-Vergangenheit gesegneter englischer Musiker, stellte als Produzent stattdessen eine Gruppe von Session-Musikern zusammen, wie Dave Thompson auf AllMusic geringschätzend schreibt. Aber immerhin arbeitete Ollie Halsall, als Gitarrist die Nachfolge von Barrett antretend, schon bei Kevin Ayers, John Cale oder der Beatles-Parodie-Band The Rutles, und Morgan Fisher an den Keyboards hatte unter anderem Mott The Hoople auf seinem Lebenslauf stehen.

„Where did I go right?” weist seltener die manische Energie der ersten beiden Otway + Barrett-Alben auf, aber es überzeugt mit exzellentem Songwriting und überraschenderweise auch mit gefühlvollen Balladen. Mit „It´s a pain“ beinhaltet es aber auch klassischen Otway-Stoff, für mich sogar einer seiner besten Songs in fast 50 Jahren. Fisher treibt den Song mit seinem Boogie-Piano, Halsall zeigt im Solo, dass er sich nicht vor Barrett verstecken muss, und Otway beweist, was ihn einzigartig macht: Er ist einfach John Otway und mehr braucht es nicht. Kein anderer singt wie er. Es würde auch keiner wagen.

Auf der zweiten Seite legt er mit „Frightened and scared“ noch eins drauf. Zuerst säuselt noch der Synthesizer von junger Liebe, doch dann erinnert sich Otway: „Everytime I cared I just got hurt“ und je länger der Song dauert, desto verschreckter und verzweifelter wird er. Ganz großes Kino. Der Abschlusstrack „The Highwayman“ transportiert noch einmal Otways theatralisches Talent und war wie die anderen beiden Songs langjähriger Bestandteil seiner zahlreichen Live-Gigs.

„Where did I go right?” ist vielleicht das konventionellste Album dieses liebenswerten Verrückten, aber das muss nichts Schlechtes bedeuten, wie er hier beweist. Immerhin ist das Songwriting auf hohem Niveau und fast alle Tracks bleiben einem über die Jahrzehnte bestens im Gedächtnis.

Otway kam ein Jahr später noch einmal für ein letztes Album mit Wild Willy Barrett zusammen, doch das ist eine andere Geschichte.



John Otway - Under the covers and over the top

 

John Otway – Under the covers and over the top

Otway Records 1992

Zum Jahreswechsel darf es auch etwas Unterhaltsames sein, dachte ich mir, und kaum etwas eignet sich dafür so großartig wie John Otway. Mit neun Jahren beschloss er Pop-Star zu werden.  Er hörte die Beatles- und Stones-Platten seiner Schwester und erkannte früh, das sei außerhalb seiner eigenen Fähigkeiten. Dann kaufte seine Schwester eine Bob-Dylan-Platte und für Otway war im Augenblick klar, der Weg zum Star wäre auch für ihn frei.

Er selbst bezeichnet sich auch nach wie vor als „Singer-Songwriter“ – für mich ist er eher ein Natural-Born-Entertainer im Fach Rockmusik und darin einer der Allerbesten. Er begann 1972 gemeinsam mit seinem Partner Wild Willy Barrett Musik zu produzieren, erlangte mit seinem amateurhaften Zugang zu allem kurz ein wenig Aufmerksamkeit in der ähnlich gestrickten Punk-Zeit, und hielt sich in der Folge vor allem mit Konzerten über Wasser. Er verfügte über eine kleine, aber überaus treue Fanbase im United Kingdom, die seinen Humor zu schätzen wusste.

Diese verschworene Gemeinschaft erfüllte ihm 2002 zu seinem 50. Geburtstag auch den öffentlich geäußerten Wunsch nach einem Hit. Das Publikum wählte bei einem Konzert „Bunsen Burner“, bei dem er Samples aus dem Trammps-Song „Disco Inferno“ benutzte, als potentiellen Hit. Otway brachte den Song in drei verschiedenen Versionen heraus, von denen jede als Eintrittskarte zu einem Konzert galt. Sein Publikum kaufte alle drei Singles und „Bunsen Burner“ ging auf Platz 9 der UK-Charts.

Als B-Seite fungierte jeweils seine Coverversion von „House of the rising sun“ – ein unglaubliches Dokument seines Verhältnisses zu einem fanatischen Publikum. Otway bringt den Song live im Dialog mit 900 seiner Fans, die offensichtlich alle wissen, welche Teile des Songs er ihnen überlässt, und es funktioniert einzig- und großartig.

Und eben hier setzt eines meiner Lieblingsalben dieses wunderbaren Entertainers an: 1992 brachte er ein Album mit elf Coverversionen heraus. Man braucht sicherlich einen Sinn für britischen Humor, um dieses Album schätzen zu können, denn „Starman“ von Davis Bowie als Marschmusik mit deutschem Akzent ist nicht jedermanns Geschmack. Für mich ist es jedenfalls das mit Abstand amüsanteste, das ich kenne. Cat Power beispielsweise hat sich an drei dieser Zusammenstellungen abgemüht, aber Otway bläst diese Humorlosigkeit in 30 Sekunden mühelos weg.

Es wäre nicht John Otway, würde er nicht das Album mit einem Beatles-Song eröffnen, um seine eigene Geschichte ein wenig umzuschreiben, und keiner könnte besser zu ihm passen als „I am the Walrus“. Er singt es zwar nicht, aber mit Otways Charme und Humor wird der Song zu etwas ganz Eigenem, ganz Wunderbarem.

Dass er auch seinen Dylan beherrscht, zeigt er mit einem Track, der wohl auch für seinen eigenen Lebensentwurf steht: „I will survive“. Symptomatisch für seinen sympathisch amateurhaften Zugang zu den ausgewählten Hits ist auch „Blockbuster“ von The Sweet, dem er seinen sehr individuellen Stempel aufdrückt. Man warte nur auf das Krähen.

In weiterer Folge scheut er auch nicht davor zurück, „Wild Thing“ der Troggs mit Serge Gainsbourgs „Je t´aime“ zu kreuzen und seine Gesangspartnerin „Oooh, Otway!“ stöhnen zu lassen. Skurril ist auch seine Version von Bachman-Turner Overdrives „You ain´t seen nothing yet“, wo er als zweite Stimme den Kabarettisten Attila The Stockbroker auf Deutsch den Song kommentieren lässt. Als Abschluss bringt er David Bowies Anthem „Space Oddity“ mit einer Blaskapelle und man amüsiert sich viel zu viel, um Blasphemie rufen zu können. All diese Tracks zeugen von so viel Individualität und Humor, dass sie zu meinen absoluten Highlights unter mehr als 6000 Tonträgern zählen.

AllMusic nennt John Otway einen „lovable loser“. Bei mir gewinnt er auch noch fast alles und so wird er auch der einzige Künstler sein, der in dieser Sammlung von unbekannten Meisterwerken zwei Einträge erhält. Er verdient es einfach.




Pigbag - Dr Heckle and Mr Jive

 

Pigbag – Dr Heckle and Mr Jive

Y Records 1982

Nach der Revolution durch den Punk war in der Musik plötzlich alles offen; der Post-Punk entwickelte sich in verschiedene Richtungen. Techno, Gothic und Synth-Pop wurden in der New Wave geboren, Jazz, Funk und Disco – letzteres ein absolutes Feindbild im Punk – konnten integriert werden.

Eine reine Instrumental-Band war jedoch sogar im Post-Punk ein Unikat, denn die Texte waren im Punk plötzlich wieder wichtig geworden. Doch Pigbag gingen 1980 genau diesen Weg. Sie nahmen Funk, viel Jazz, Ska und Afro-Beat, ja selbst Samba und Tango, und mischten es mit der Anything-goes-Haltung des Punks. Man stelle sich A Certain Ratio ohne Gesang, aber dafür mit guter Laune vor (ja, ich weiß, das fällt etwas schwer), nachdem sie einige Stunden Jazz und Afro-Beat gehört haben, dann kommt man in die Richtung. Das Ganze war tanzbar und extrem Gute-Laune-fördernd. Der erste Track auf dem Album heißt „Getting up“ und mit dieser Musik fällt selbiges schon sehr viel leichter.

Für einen Moment erfolgreich wurden sie mit ihrem Cover des James-Brown-Hits „Papa´s got a brand new (Pig)Bag“. Dieser Track schaffte es in die Top-Ten der UK-Charts und zur offiziellen Stadion-Hymne des FC Middlesbrough. In der Originalfassung des Debutalbums fand er jedoch keine Aufnahme; erst die CD-Edition beinhaltete ihn als Bonus-Track.

Später stieß eine US-Jazzsängerin zur Band, heiratete sogar ein, doch „Dr Heckle and Mr Jive“ blieb das herausragende Pigbag-Album. Jahrzehnte später sollten sich Bands wie !!! oder LCD Soundsystem ein Stück von diesem Kuchen abschneiden.




Pink Military - Do Animals Believe in God?

 

Pink Military – Do Animals Believe In God?

Eric´s / Virgin Records 1980

Dies ist das Album, das mich zu diesem Blog inspirierte: Niemand kennt es und doch beinhaltet es eine Sammlung scheuer Wunder und zerbrechlicher, tränennasser Schönheiten. Es ist Musik irgendwo zwischen Darkwave, Synth-Pop und den Young Marble Giants. Vielleicht mit der Fröhlichkeit der Tindersticks (Vorsicht Ironie) dargebracht.

Die ersten drei Lieder sind zum Herzzerreissen schön, erst „Wild West“ bricht mit seinem Tanzrhythmus die Magie. Zuvor nimmt einen Sängerin und Bandleaderin Jayne Casey mit in die Welten des hoffnungslosen Bedauerns, des Suizids und des Kindesmissbrauchs:

Sie eröffnet das Album mit den Zeilen:

Degenerated man
Degenerated man
Saw a man that once was me
No escaping, no escaping

und setzt fort mit:

Did you see the blood as it rushed from her vein?
Did you feel her heart break, feel her pain?
Did you see her looking at the empty bed?
Did you think of the things you should have said?

in “Did you see her”

Oder in “I cry”:

I cry, I cry, I cry, I cry
Hey little boy your body′s so soft so warm
Come with me my darling
You won’t know that you′ve ever been born

Casey singt all diese bitteren Zeilen aber völlig ohne Pathos, ohne Anklage, nur mit leichter Resignation. Die Musik zeichnet dazu auf „I cry“ mit Orgel, Klavier und Bassgitarre zarte Aquarellbilder.

Der mittlere Teil des Albums bietet dann gefälligen, dunklen und leicht experimentellen Synthie-Pop; erst der abschließende Titeltrack erreicht wieder die schwerelose Schönheit der ersten drei Tracks.

Jayne Casey gründete die Band 1980, als sie aus der Liverpooler New-Wave-Lokalgröße „Big in Japan“ ausstieg. Pink Military veröffentliche trotz der Unterstützung des allgegenwärtigen John Peel nur dieses Album, wandelte sich dann zur tanzbareren Pink Industry, ohne jemals wieder diese Größe zu erlangen.




Pork Dukes - Pink Pork

 

Pork Dukes – Pink Pork

Wood Records 1978

Punk Bands brachen komplett mit der Tradition der Rockmusik – musikalisch, indem sie die Synthesizer-Türme und das Prog-Rock-Geschwurbel durch drei schnell heruntergedroschene Gitarrenakkorde ersetzten und textlich, indem sie statt von Fantasy-Epen und Konzept-Alben über die sechs Frauen von Heinrich dem Achten lieber über Anarchie, Nihilismus und Langeweile sangen.

Obwohl aus der ersten Welle des britischen Punks kommend handelten die Texte der Pork Dukes, wie der Name schon suggeriert, eher von anderen Themen. Titel wie „Telephone  Masturbator“ oder „Big Tits“ sind anschaulich genug und brachten ihnen sofort die Zensur der BBC ein.

Musikalisch klangen sie wie die melodiösere Version der Buzzcocks – also extrem eingängig. Der große John Peel, jener BBC-Moderator, über dessen Plattenteller nahezu jede Karriere des britischen Punks und Post-Punks begann, sagte über sie: „The Pork Dukes would have hits with their infuriating catchy singles, were they not so manifestly unbroadcastable.“

So konnten sich nur Plattenkäufer über Reime wie „Night in the city, looking for titty“ amüsieren. Da sie offensichtlich, was im Punk eher selten war, ihre Instrumente fehlerfrei beherrschten, und zudem mit Schweinemasken über den Gesichtern auftraten, rankten sich rasch Gerüchte um sie, wer denn hinter den Masken stecken würde. Keith Moon etwa, immer für dumme Scherze zu haben, oder gar der Schauspieler Dudley Moore wurden als Sänger gehandelt. Mitglieder von Led Zeppelin wurden ebenso in der Band vermutet wie welche der englischen Folk-Gruppe Steeleye Span. In letzterem Fall sogar zurecht, denn die Rhythm-Section kam von ebendort, und an der Gitarre und den Vocals zwei Mitglieder einer ehemaligen Prog-Rock-Gruppe mit dem schönen Namen Gnidrolog.

Nach der ersten LP lösten sie sich bereits wieder auf; das zweite Album erschien bereits posthum, doch sie lehrten die Jugendlichen der späten 70er Jahre, dass Punk auch jede Menge Spaß machen konnte.




Ambrosia - s/t

  Ambrosia – s/t 20 th  Century Records 1975 Prog-Rock hatte 1975 für mich – mit 16 Jahren – einen schweren Stand. The Who zeichneten „By Nu...